Uhrenvergleich in Cupertino — der etwas andere Rückblick auf die Apple Keynote

Apple will über eine neue Research App die Durchführung medizinischer Forschungen demokratisieren. Die Teilnahme an klinischen Studien werden so auch für Gesunde en vogue. Wie bald viele Träger eine Apple Watch Series 5 ihren Beitrag am Weltgesundheitsgeschehen leisten sollen.

Frank Stratmann
7 min readSep 11, 2019
Vorauseilende Illustration zur Zukunft des Konzerns?

Allen Unkenrufen zum trotz. Die Apple Keynote bleibt eine der beliebtesten Online-Serien dieser Jahre. Die Erfolgsserie wird zweimal pro Jahr live ausgestrahlt. Anhänger verfolgen weltweit zur individuellen Tageszeit die Aufführung im Steve-Jobs-Theatre in Cupertino. Die bis auf die letzten Gedankenpausen geschliffenen Auftritte des Apple Teams bilden die dramaturgisch Rahmenhandlung für die Fakten. Apple hat an solchen Abenden seiner Gemeinde aus Evangelisten etwas anzubieten. Auch wenn das nichts mehr mit den legendären Auftritten des Apple Gründer Steve Jobs zu tun hat. Tim Cook inszeniert seinen Stab aus verantwortlichen Mitarbeitern gewohnt routiniert. Und wie immer drehen sich Börsennotizen, Blogs und die von Journalisten aller Gattungen Nachbewertungen vor allem um die technischen Fakten. Schon während der Keynote reagiert der Aktienkurs.

Nicht ganz unbemerkt geblieben ist die Tatsache, dass wir den Zenit für immer weiter steigende Absatzzahlen bei Smartphones überschritten haben. Das iPhone beschert Apple nach wie vor eine solide Umsatzbasis. Doch scheint der Tech-Konzern eingesehen zu haben, dass die Zukunft nicht auf Hardware errichtet werden wird. Auch wenn das neue iPhone Pro jetzt drei Kameras bietet. Hardware ist wie eine Zitrone. Wer an den Saft will, muss über die geeignete Saftpresse verfügen und so ist es ein neuer A13 Bionic Chip mit eingebautem Machine Learning, das aus den ungünstigsten Fotos noch das Beste herausholen soll. Apple mit seinen Ökosystem, hauseigenen Softwareangeboten und einer zufriedenen Entwicklerszene scheint ein Vorbild für viele zu bleiben. Und doch, einmal mehr weitestgehend unbeachtet von den Analysten bleibt die Tatsache, dass allein mit dieser Kombination in den nächsten Jahren kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist.

Teilnahme an Studien ergänzt den Healtstyle

Schon seit der letzten Keynote wurde viel spekuliert, was Apple in den nächsten Jahren unternimmt, um sich unabhängiger vom iPhone zu machen. Auch deshalb standen Dienste wie Apple Arcade und Apple TV+ gestern Abend neben den neuen Geräten im Fokus. Mit Kampfpreisen will Apple in diesem Segment der Konkurrenz wie Netflix, Amazon Prime und künftig auch Walt Disney begegnen. Darauf reagiert die Apple Aktie positiv noch während Tim Cook sprach.

Apple Watch Series 5 vorgestellt

Noch vor der Verkündung neuer iPhone Modelle wurde die neue Apple Watch Series 5 vorgestellt. Deren Präsentation folgte ein kurzes, galantes Video. Es sollte zeigen, was eine Uhr, außer die Zeit anzuzeigen, noch so alles leistet. Zuvor wurde die Dankbarkeit jener dokumentiert, die als Träger einer Apple Watch ganz persönliche Schicksale abwenden oder persönlichen Erlebnissen eine glückliche Wendung geben konnten. Offenbar erreichen Tim Cook persönlich Nachrichten von Menschen, die sich beim Konzern bedanken, weil ihnen die Appel Watch das Leben gerettet habe.

Enttäuschend geblieben sein dürften all jene, die auf ein natives Schlaftracking hinter dem jetzt nicht mehr ausblendenden Zifferblatt gehofft hatten. Dafür gibt es jetzt drei Gehäusevarianten. Einmal aus dem stets betonten 100% recycelten Aluminium, Keramik und Titan. Soweit so gut.

Die mit der Series 3 begonnene Zusammenarbeit mit medizinischen Forschungseinrichtungen an Krankenhäusern und Universitäten wurde bereits mit der Series 4 und der im letzten Jahre eingeführten EKG Funktion fortgesetzt. Noch bevor man während der Vorstellung der Apple Watch Series 5 auf technische Details und Lifestyle Attribute einging, wurden gestern Abend drei neue Studien angekündigt. Das ist in sofern bemerkenswert, weil dazu auch im Publikum eine gewisse Sensitivität zu spüren war. Selten erlebt man Beifall während der Ankündigung medizinischer Studien.

Als die Apple Watch Series 3 gemeinsam mit der Apple Heart Studie vorgestellt wurde, klang das noch eher rechtfertigend. Schaut her, wir beweisen Euch, dass da was geht. Seit gestern ist klar: Apple baut strukturiert medizinisches Wissen um dieses Gadget auf und damit tritt zum Effekt des digitalen Lifestyles der datenabhängige Healthstyle hinzu.

Gleich drei neue Studien will Apple in Kürze über eine neue Research App den Trägern einer Apple Watch Series 5 anbieten. Derzeit werden die Studien vor allem mit Teilnehmern in den USA durchgeführt. In der dazu veröffentlichen Pressemeldung aus dem Hause Apple heißt es: Die Durchführung der medizinischen Forschung demokratisiere den Prozess, indem akademisch-medizinische Einrichtungen, Gesundheitsorganisationen und die Kunden von Apple-Produkten zusammengebracht würden. Folgende Studien stehen zur Auswahl:

Apple Women’s Health Study

In Partnerschaft mit der Harvard T.H. Chan School of Public Health und dem National Institute of Environmental Health Sciences (NIEHS) des NIH wird die erste Langzeitstudie dieser Größenordnung erstellt. Sie konzentriert sich auf Menstruationszyklen und gynäkologische Erkrankungen. Diese Studie wird das Screening und die Risikobewertung von Erkrankungen wie dem polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS), Unfruchtbarkeit, Osteoporose, Schwangerschaft und Wechseljahren berücksichtigen.

Apple Herz- und Bewegungsstudie

Apple arbeitet mit dem Brigham and Women’s Hospital und der American Heart Association an einer umfassenden Studie, in der untersucht wird, wie Herzfrequenz- und Mobilitätssignale — auch Schrittgeschwindigkeit und Treppensteigen — sich auf Stürze, Herzgesundheit und Lebensqualität auch in Folge eines Krankenhausaufenthalts auswirken. Daraus erwartet man Erkenntnisse, um eine gesunde Bewegung und eine verbesserte Herz-Kreislauf-Gesundheit zu fördern.

Apple Hearing Study

Neben der University of Michigan untersucht Apple Faktoren, die sich auf die Gesundheit des Gehörs auswirken. Die Apple Hearing Health Study ist die erste ihrer Art, die Daten über einen längeren Zeitraum sammelt, um zu verstehen, wie sich die tägliche Schallbelastung auf das Gehör auswirkt. Die Studiendaten werden auch der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Beitrag zur Initiative Make Listening Safe zur Verfügung gestellt.

Neben der medizinischen Relevanz, die erwartungsgemäß unter Experten diskutiert werden dürfte, greifen noch andere Aspekte, die mit Blick auf den Zugang, die Akzeptanz und der Zielgruppe wichtig sind. Wissenschaftlich orientierte Apps gibt es bereit. Sie greifen unter Zustimmung ihrer Nutzer z.B. auf Daten zurück, die Aufschluss geben über das Online-Verhalten. Manchmal steht auch eine reine Befragung zur Situation des Nutzers im Zentrum der Interessen. Dabei geht der Impuls immer von der Wissenschaft selbst aus. Alternativ von der medizintechnischen Industrie, die die Wirksamkeit ihrer Produkte nachweisen muss.

Die jetzt intensivere Verschränkung zwischen hauseigner Apple Hardware und dem damit verbundenen Zugriff auf Daten aus der Uhr, auf die wissenschaftliche Drittanbieter nicht ohne weiteres Zugriff hätten, verändert das Studiendesign genau so wie die in kürzester Zeit erreichbare Anzahl an Studienteilnehmern. Dabei tragen die Studien den Namen Apple, was nicht nur suggerieren soll, dass ein Elektronikkonzern die Verantwortung übernimmt. Die Verantwortlichkeit arrangiert nicht nur eine wissenschaftliche Aura. Schon mittelfristig steigt damit auch die Glaubwürdigkeit der Produkte aus dem Apple Imperium, die zur Neuvermessung der Gesundheit genutzt werden. Wer hier nur an ein absatzorientiertes Kalkül denkt, springt zu kurz.

Die erste Apple Heart Study, die mit der Series 3 vorgestellt wurde, erreichte bis heute 400.000 Probanden. Zudem muss betont werden, dass Apple und seine medizinisch-wissenschaftlichen Partner vor allem auf Daten gesunder Träger einer Apple Watch zurückgreifen, um mithilfe künstlicher Intelligenz und der damit verbundenen Mustererkennung zusätzliche Erkenntnisse einzubeziehen. Etwas, das bei medizinischen Studien so meistens nicht passiert. Traditionelle Studien vermessen z.B. das kranke Herz unter dem Einfluss von Medikamenten. Gesunde Herzen in dieser Anzahl bleiben in der Regel unberücksichtigt. Auch das engmaschige Vorgehen erreicht damit ein neues Niveau. Die Apple Watch ist ein nützlicher Begleiter im Alltag und kein medizintechnischer Klotz am Bein.

Der wohl wichtigste Aspekt ist der des einfachen Zugangs. Die Teilnahme an einer medizinischen Studie verbindet sich oft mit der Hoffnung der Betroffenen, von einer neuen Therapie zu profitieren. Oder vor, während und nach einer Therapie, möglicherweise mit einem operativen Eingriff, wird aus klinischen Daten und Patient Reported Outcomes eine Qualitätsaussage getroffen, die vor allem das eingesetzt Produkt rechtfertigen soll.

Die neue Hoffnung, an einer Studie teilzunehmen, heißt jetzt Prävention. Das ändert vieles, wenn auch zunächst im Kleinen. Auszuschließen kann nämlich nicht, dass eine breite Vermessung zielgruppenspezifischer Bevölkerungsanteile, die nicht einmal von einer Krankheit betroffen sind, allgemein als hipp eingestuft wird. Hinzu kommt, dass die Teilnahme an einer Studie einfacher wird als je zuvor und Gesunde damit einen Beitrag leisten, der in den nächsten Jahren einen ähnlichen Stellenwert erfahren könnte, wie die Blutspende. Mit Daten seinen Beitrag leisten ist dann womöglich Teil eines neuen Healthstyles. Soziale Verantwortung als Einzelner zu übernehmen wird so einfach wie ein Like. Damit dürften auch der ethische Diskurs um die Datenspende einen neuen Impuls bekommen. Die Spende von Daten ist allerdings etwas anderes als die zuletzt vielschichtig und vor allem ethisch geführte Debatte um die Organspende.

Apple wendet sich immer mehr dem Gesundheitssektor zu. Leider bleibt das — auch von Branchenteilnehmern — noch weitestgehend unbemerkt. Hausärzte mahnen häufig, die wahre Medizin passiere nicht auf den sich selbst verstärkenden Shows für Zukunftsmedizin und ihren Szenarien. Das mag augenscheinlich richtig. Wir dürfen aber mit unserem Gesundheitssystem nicht zufrieden sein, wie es heute ist. Neben den arbeitsorganisatorischen Vorteile, die die digitale Transformation des Gesundheitsgeschehen mit sich bringt, gilt es eben auch, sich medizinisch weiter zu entwickeln.

Und digital getriebene Konzerne wie Apple sind agiler als es den Anschein hat. Während der industriekulturelle Mittelstand unter der Aufgabenlast der sogenannten Digitalisierung ächzt und in weiten Teilen überfordert sein dürfte, die Transformation höchstwahrscheinlich nicht einmal überlebt, zeigt der Weltkonzern ein besonderes Gespür, die eigenen Zukunftsaufgaben sachte in die Tat umzusetzen. Und zwar jetzt schon. Apple ist klar, dass mit Unterhaltungselektronik und dazu passenden Services vielleicht aktuell mehr zu holen ist. Die Zukunft liegt aber auch im Megatrend Gesundheit.

Das mit den Herausforderungen z.B. der pharmazeutischen Industrie zu vergleichen, ist zugegeben etwas billig. Doch während die Pharmaindustrie seine eigene Digitalisierung mit dem Absatz von Wirkstoffen finanzieren muss und dabei auch auf unlautere Methoden setzt, verkauft Apple der Weltbevölkerung Unterhaltung im Wesen eines immateriellen Wertangebots. Das wirkt ohne Zweifel leichtfüßiger, was den Einstieg in das gesundheitliche Weltgesundheitsgeschehen doppelt interessant macht. Wir werden sehen, wohin das führt.

12 Jahre nach der Vorstellung des ersten iPhones, dessen Potenzial damals nur wenigen Beobachtern klar war, stecken wir sicher schon längst im neuen Paradigma. Apple beginnt heute schon, den Grundstein zu legen, an diesem Paradigma zu partizipieren und es sicher auch mitzugestalten. Der datengetriebene medizinische Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Selbstverständlich lassen sich damit heute keine Versorgungslücken schließen oder vom Personal entleerte Krankenhäuser betreiben. Auch einer Hausarztpraxis lässt sich damit noch nicht sinnvoll betreiben. Doch auch hierzulande beginnt jetzt — einmal mehr — die Auseinandersetzung mit der neuen Zeit mit einer datengetriebenen Zukunftsmedizin, die unsere Vorstellungen einer Gesundheitsversorgung in den Grundfesten erschüttern könnte.

Schreiben Sie mir gern Ihre Meinung oder nutzen Sie mein Zeitgeschenk, um mir ihre Perspektive für den Diskurs in sich verändernden Gesundheitsmärkten anzubieten.

--

--

Frank Stratmann
Frank Stratmann

Written by Frank Stratmann

… bietet die Verknüpfung gesellschaftlicher Trends mit zukunftsorientierten Entscheidungen für alle professionell am Gesundheitsgeschehen Beteiligten.

No responses yet