Brauchen wir die Smart Praxis?
Dieser Artikel eröffnet eine Serie zur smarten Haus- und Facharztpraxis, die ich für die nächsten Wochen über diesen und andere Kanäle anbieten möchte. Bis Ende des Jahres sollen mit Ihrer Hilfe verschiedene Sachverhalte (Use Cases) beleuchtet werden. Bitte schreiben Sie mir gern persönlich oder bringen Sie sich hier mit einem Kommentar unterhalb des Beitrags konstruktiv ein.
Anlass, ausgerechnet heute damit zu beginnen, bietet die Ankündigung des Bundesgesundheitsministers zum elektronischen Rezept, das spätestens bis zum Jahre 2020 kommen soll. Viele Medien beschäftigen sich heute damit.
Jens Spahn hatte gestern der FAZ von seinem Vorhaben erzählt, das elektronische Rezept durch eine Gesetzesinitiative voranzubringen. Es soll auch über das Smartphone funktionieren. Wieder einer dieser Meilensteine, an dem wir vermuten dürfen, dass es jetzt bald „much more smarter“ zugeht in deutschen Arztpraxen?
Emotionaler Ausnahmezustand bei Gesundheitsdaten
Es ist und bleibt eine Gratwanderung, anzumahnen, dass sich die digitalen Errungenschaften bitteschön baldmöglichst auf das Gesundheitsgeschehen übertragen mögen. Technologisch wäre (fast) alles möglich. Aber warum tun wir es dann nicht? Weil unsere Werte noch nicht zur prognostizierten Welt passen wollen. Wo stehen wir hier? Wie denken die Patienten darüber? Sind die Ärzte in eigener Niederlassung vorbereitet auf das, was uns in den nächsten Jahren erwartet?
Wir brauchen noch etwas Geduld
Die gesamte vergangene Woche beschäftigte mich eine Diskussion in einer Community, bei der es eigentlich um eine Meldung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ging. Die KBV hatte in einer Umfrage unter Ärzten festgestellt, dass immer noch 27% der Ärztinnen und Ärzte in Ihrer Praxis analog dokumentieren. Zugegeben. Ich hatte die Meldung auf den Kopf gestellt, um einen Diskussionspunkt zu haben. Denn die KBV hatte das ganze etwas positiver ausgedrückt und mit den 73% teilweise oder ganz digital dokumentierenden Praxen kokettiert. Mich ereilte daraufhin der Vorwurf, Ärzte ständig zu kritisieren. Und weil ich das selbstverständlich ganz anders sehe, habe ich mir noch einmal Gedanken dazu gemacht, was da eigentlich gerade passiert.
In Vorbereitung auf mein Treffen mit Thomas Schulz beim 2. eHEALTH-DAY der Gesundheitswirtschaft in Hamburg in der vergangenen Woche, las ich nochmal ein paar Seiten in dessen Buch Zukunftsmedizin und ich erinnerte mich damit selbst daran, wie diametral derzeit der Diskurs verläuft. Während Thomas Schulz über 3D-Druck bei Organen erzählt und von Investitionssummen, die schon einmal eine Milliarde pro Startup betragen können, regiert im deutschen Gesundheitswesen immer noch die German Angst. Befördert durch einen Anachronismus, dessen Tragik sich daran misst, dass wir jetzt sogar eine Initiative gründen müssen, die das Faxgerät in deutschen Versorgungsunternehmen mithilfe einer Online-Petition abschaffen will.
Der Bund der Steuerzahler bezeichnete schon 2017 die Bemühungen rund um die elektronische Gesundheitskarte als skandalös. Das eigentlich skandalöse dabei ist aber nicht die Höhe der verschwendeten Steuergelder. Für das Geld gibt es bis heute kaum einen technologischen Wurf zu vermelden, der aus sich heraus eine zukunftsweisende Diskussion ermöglichen könnte.
Das liegt vor allem an der Zeit, die sich das Projekt genommen hat. Vom Smartphone überholt auf der falschen Spur. Es gibt kaum einen Redner, der beim Thema Gesundheitsdaten nicht mindestens eine Folie zur Hand hat, die mit erhobenem Zeigefinger auf die eGK Kostenuhr zeigt, die heute übrigens genau 2,845 Milliarden Euro verschwendete Steuergelder anzeigt. Vielleicht waren ja nicht alle Euros Verschwendung. Möglicherweise haben wir viel gelernt; vor allem wie man es nicht macht. Leider erwächst daraus aber keine zielführende Debatte. Aus der Elbphilharmonie kommt wenigstens Musik. Das einzige, was von dem Projekt eGK übrig bleiben könnte ist die Telematikinfrastruktur.
Schlagzeilen zur Datensicherheit
Fast schon erfrischend bewegend wirkt da die asymmetrisch geführte Diskussion zwischen einem Unternehmen für Datensicherheit und einem Anbieter von Gesundheitsakten. Asymmetrisch, weil das Thema Datensicherheit quasi mit der Geburtsstunde des Internets das Licht der Welt erblickte und sich hier eine Community etabliert hat, die es gewohnt ist, keine falschen Kompromisse zu machen. Gut so. Auf der anderen Seite ein Unternehmen, das beweisen konnte, dass man in 11 Monaten ein zukunftsweisende Projekt auf die Beine stellen kann und eben nicht 15 Jahre braucht, um quasi ein nicht zukunftsfähiges Konstrukt hervorzubringen.
Beiden Seiten ist ein hohes Niveau zu attestieren. So gerät das derzeit zukunftsfähigste Projekt für eine § 68 Gesundheitsakte in die Schlagzeilen, weil führende Experten für Datensicherheit aufgrund ihrer hohen Fachkompetenz Angriffsvektoren konstruierten, die vor allem für Aufregung auf der Seite derer sorgte, die an der emotionalen Diskussion rund um das Thema Gesundheitsdaten interessiert zu sein scheinen.
Gemäß den Gepflogenheiten hatte das eine Unternehmen das andere über die Sicherheitsbedenken in Kenntnis gesetzt. Die Entwickler der Gesundheitsakte hatten daraufhin binnen Stunden reagiert und technisch nachgebessert. Was blieb, war eine um einen Monat versetzte Auseinandersetzung dazu über Blogs und Fachmagazine, die sich am Ende darüber echauffierten, wer von den Beteiligten jetzt unglücklicher kommuniziert hatte. Das Sicherheitsproblem, das im technischen Sinne eines war, wurde kurzfristig behoben, entbehrte aber eher der realistischen Grundannahme für einen wirklichen Störfall.
Die emotionalen Peaks, die das Thema Gesundheitsdaten regelmäßig erzeugt, stehen in keinem Verhältnis mehr zu dem, was sonst noch um uns herum passiert.
Fernab des Mainstreams der lesenden Bevölkerung las man in etablierten Online-Techmagazinen von Supergau und eklatanten Sicherheitsmängeln, die in einer Tonalität vorgetragen wurden, die jede Verhältnismäßigkeit vermissen ließen. Das ganze übernahmen Tech-Blogs und andere, die sich manchmal kurz manchmal etwas zu langatmig mit der Thematik beschäftigten. Und noch einmal. Das ist gut so. Denn endlich kommen wir in die Stimmung, die ansatzweise grundsätzlich über das Thema Gesundheitsdaten diskutieren lässt. Bislang wird viel hingenommen, aber wenig verstanden.
Als Beispiel dient da unter anderem ein Besuch bei der Bank letzte Woche, bei dem ich ein Formular unterschreiben sollte und deshalb ein Vor-Ort-Termin nötig wurde. Begleitet wurde dieser 40-minütige Besuch von einem Rechner mit Windows XP. Hunderttausende Faxe verlassen täglich deutsche Arztpraxen. Darauf ungeschützte, personenbezogene Patientendaten, teilweise unleserlich und zur Interpretation von Diagnosen und Therapieverläufen feil geboten. Unverschlüsselte Kommunikation ist allgegenwärtig. Was den oben genannten Fall betrifft, waren zu keinem Zeitpunkt unverschlüsselte Daten betroffen.
Brauchen wir die Smarte Praxis?
Beides. Die emotionalen Verwirrungen, die im Diskurs stecken und professionell Beteiligten regelmäßig aus der Stresstoleranz kippen lassen; aber auch eine unverhältnismäßige Debatte fernab der technologischen Lebenswirklichkeiten von Patienten und Praxen rund um die Themen Datenschutz und Datensicherheit, halte ich für schizophren und würde hier gern etwas helfen, den Nutzen für angeschlossene Arztpraxen herauszuarbeiten.
Ich möchte diesen Beitrag zum Anlass nehmen, mit Ihnen als Experte z.B. in der eigenen Praxis, aber vor allem auch in der Rolle als Patient darüber zu sprechen, wie sich ein konstruktiver Diskurs gestalten lässt, wenn es um die smarte Praxis geht. Eine breite Debatte, die jene German Angst etwas mildert, die uns einerseits wachsam hält, aber auch zu hemmen scheint. Ein Austausch, der die Chancen einer datengetriebenen Medizin und der an digitalen Wertschöpfungsketten orientierten Organisation des gesamten Gesundheitsgeschehens auch für die Fach- und Hausarztpraxis erlaubt, ohne die Risiken und Beenden zu negieren.
Schreiben Sie mir gern, was Sie von der Zukunftsmedizin und der Digitalisierung des Gesundheitsgeschehens erwarten. Ich greife die Eingaben dann in einer Artikelserie auf und bespreche diese anonym und möglichst ausgewogen. Inspirieren Sie mich oder lehren sie mich das Fürchten. Bin gespannt.